Er hat längst Kult-Status: Der Originalteile-Podcast von und mit Robert Mucha. In der 71. Ausgabe hat der Journalist die Forschungsprofessorin Nicola Marsden vor dem Mikrofon. Sie nimmt Hörer*innen mit auf eine Reise durch die Welt der KI-Ethik. Marsden ist heute eine der wichtigsten Stimmen auf diesem Gebiet. Doch von vorn: Es gibt diesen Moment in Professorin Nicola Marsdens Leben, der alles erklärt. Sie ist noch klein, Grundschülerin in Düsseldorf, als die Klasse ein Lied auf Platt einübt. "Wir sind alles Düsseldorfer Jongs", sollen die Kinder singen. Die kleine Nicola protestiert. Wie kann sie ein Jong sein? Sie ist doch ein Mädchen. Die Lehrerin erklärt geduldig, dass mit "Jongs" alle gemeint seien. Auch die Mädchen.
Heute, fast fünf Jahrzehnte später, sitzt Nicola Marsden in ihrem Büro der Hochschule Heilbronn am Bildungscampus Nord. Der Raum liegt im zweiten Stock, durch die Fenster fällt das Licht der Herbstsonne. Marsden trägt eine mintfarbene Bluse, eine markante Brille, ihr Kurzhaarschnitt ist präzise geschnitten. Sie lächelt, wenn sie von dieser frühen Rebellion erzählt. "Da hatte ich so eine erste Turbulenz und habe gemerkt, da ist irgendwas nicht ganz passend." Dieses "nicht ganz Passende" wurde zu ihrem Lebensthema. Heute ist Marsden Forschungsprofessorin für Sozioinformatik und eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um Ethik in der Künstlichen Intelligenz geht. Sie kämpft dafür, dass die Technologie der Zukunft nicht die Vorurteile der Vergangenheit fortschreibt.
Ihr Weg dahin ist eine Geschichte deutscher Zeitenwenden. Geboren in Düsseldorf, aufgewachsen in einem konservativen Elternhaus mit Nazi-Großvater, besuchte sie eine reine Mädchenschule. "Das war befreiend", sagt sie heute, "weil dort die geschlechtliche Zuordnung zu einzelnen Fächern überhaupt nicht existierte." Während ihr Bruder einen Atari-Computer bekam, erhielt sie eine elektrische Schreibmaschine. Aber statt zu resignieren, begann sie darauf Basic zu programmieren.
Die 80er Jahre brachten sie zu Mercedes-Benz. Als eine der wenigen Frauen schulte sie dort Mitarbeiter im Umgang mit den ersten Arbeitsplatzcomputern. "Da gab es Führungskräfte, die dachten, das hat mit mir nichts zu tun, da schicke ich jetzt jemanden hin, der mir Texte schreibt", erinnert sie sich. Ein Muster, das sie bis heute kennt: Technologie als Männerdomäne, Frauen in assistierenden Rollen.
Doch die Welt ist komplizierter als simple Geschlechterzuschreibungen. Mit verschmitztem Lächeln erzählt Marsden von Informatik-Studiengängen im Iran und in Malaysia. "Dort sind 70 bis 80 Prozent der Studierenden weiblich." Ein Befund, der das westliche Narrativ von der technikfernen Frau auf den Kopf stellt. "Je mehr Freiheitsgrade wir haben, desto stärker kommt man auf die Idee, ein geisteswissenschaftliches Studium zu machen", analysiert sie. Die vermeintliche Wahlfreiheit wird zur Falle.
Diese Erkenntnis prägt ihre Arbeit im Lab für Sozioinformatik und H-InfaM an der HHN. Wenn Marsden über die Fallstricke von KI-Systemen spricht, wird ihre Stimme energisch. Sie erzählt von der ersten Version der Apple Health App, die zwar Natrium-Aufnahme tracken konnte, aber Menstruation komplett vergaß. "Das zeigt doch, wer in den Entwicklungsteams saß und wer gehört wurde."
Forschungsprofessorin Nicola Marsden im Gespräch mit Podcast-Host Robert Mucha.
Fotos: Originalteile - Der Leute-Podcast aus Heilbronn & Region.
Ihr aktuelles Herzensprojekt heißt "Make it real" - ein mobiler Makerspace für Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte. Sie gehen in Quartierszentren, bringen Technology zum Anfassen mit. "Wir haben eine Gruppe von Mädchen, die da regelmäßig kommen, die mit Herzblut dabei sind", erzählt sie. Ihre Augen leuchten. Doch die Förderung läuft aus, die Zukunft ist ungewiss.
In ihrem Büro steht ein Laptop, daneben ein professionelles Mikrofon - sie hat gerade einen Online-Kurs zum Thema "Faire KI" aufgenommen. An der Wand hängen Poster von Tech-Konferenzen. Marsden ist längst in der digitalen Gegenwart angekommen, aber sie hat die kleine Rebellin von damals nicht vergessen.
"Wer gestaltet die Welt von morgen?", fragt sie und lehnt sich vor. "Das ist der springende Punkt." Ihre Forschung zeigt: Technische Systeme sind nie neutral. Sie spiegeln die Vorurteile ihrer Erschaffer. Aber anders als das Düsseldorfer Platt-Lied ihrer Kindheit lässt sich künstliche Intelligenz noch formen. "Wir haben die Möglichkeit zur Intervention", sagt sie, "und das finde ich eigentlich erst mal die wichtige Erkenntnis."
Fast beiläufig erwähnt sie, dass sie mal der Kunst zugewandt war. Wenn sie eines Tages mit der Wissenschaft aufhören müsste, würde sie malen. Aber noch ist es nicht so weit. Es gibt zu viel zu tun. Algorithmen zu verbessern, Teams diverser zu machen, die nächste Generation zu inspirieren.
Am Ende des Gesprächs kommt sie noch einmal auf die Grundschülerin zu sprechen, die sich weigerte, ein "Jong" zu sein. "Manchmal", sagt sie und lächelt wieder, "braucht es eben jemanden, der aufsteht und sagt: Das passt so nicht." Nicola Marsden ist aufgestanden. Und sie wird weitermachen, bis die digitale Welt ein bisschen gerechter geworden ist. Auch wenn das bedeutet, dass sie dafür ein paar weitere Lieder umschreiben muss.
Originalteile - Der Leute-Podcast aus Heilbronn & Region ist auf auf den gängigen Podcast-Plattformen zu finden. Journalist Robert Mucha begrüßt dort als Gastgeber alle 2 Wochen unterschiedlichste Akteur*innen aus Heilbronn und der Region.
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